In unserem RAUM 236 Magazin informieren wir Sie regelmässig über unsere Konzerte und geben Ihnen spannende Einblicke,
sowie Hintergrundinformationen zu den Programmen und unsere Künstler:innen.
von Rosa Zimmermann
Weisse Kleider, weisse Leinwand, farbiger Notenständer. Das Akkordeon atmet, die Geige knistert. Das Duo lädt zum Nachdenken ein: Wie frei sind Töne? Ariane Jebsen Alvestadt und Noël Rubli im Raum 236.
Ariane Jebsen Alvestadt, Noël Rubli
Das Akkordeon kriecht an den Boden. Eine alternde Raupe, jedes der Glieder ächzt. Noël Rublis Körper faltet sich mit seinem Instrument. Er umarmt seine Knie, wird klein. Durch eine Wand aus weissem Leinen zeichnet sich Arianes Silhouette ab. Ihre Geige ragt hoch über dem liegenden Noël. Ich ahne nur, wie sie die quietschenden, schrillen und eindringlichen Töne kreiert und wünschte mich auf die andere Seite. Dort sind vier Stühle und zwei Tischchen aufgestellt. Drei Zuschauende sind der Einladung auf die Rückseite der Leinwand gefolgt: Sie sehen Noëls Schatten und Ariane von vorne.
Das Stück In Silhouette von Elias Frisk wird an diesem Abend erst zum zweiten Mal performt, schweizweit ist es eine Premiere. Wir klatschen am Ende auch für den Komponisten, der auch im Publikum sitzt.
For accordion, violin und white screen, steht auf dem Flyer. Die weisse Wand wird neben den Instrumenten zum zentralen Element. Sie setzt auf visueller Ebene eine Symmetrie und Monotonie, gleich wie die geisterhaft weisse Kleidung des Duos. Das kontrastiert die musikalische Ebene, die experimentierfreudig und ungreifbar bleibt: Das Akkordeon – für mich bisher ein Instrument der Volksmusik – wird melancholisch, träge. Oft summt es in meinem Ohr wie ein Tinnitus. Und der Bogen knistert auf den Saiten der Geige. Sie darf hier faserig klingen, fast kratzig. Es entsteht ein Dialog: Melodien wiederholen sich. Die Instrumente sind sich einig, fragen sich aus, dann streiten sie. Wir nähern uns einem Höhepunkt.
Noël fällt mit einem Krachen auf das helle Laminat des Bodens. Er erhebt sich laut schnaufend. Dann schlurft er auf das Publikum zu. Ariane spiegelt ihn. Die beiden drehen sich, laufen aufeinander zu und kreuzen sich. Nun bewegt sich Ariane Richtung Publikum, auch sie atmet angestrengt. Beide halten nun auf der anderen Seite der Leinwand an. Das Spiel wiederholt sich.
Für das nächste Stück wird das Akkordeon Begleitung für eine Spoken-Word Performance: Freedom for Notes and Men von Matthew Shlomowitz. Noël tritt allein vor die weisse Wand. Eine eingängige Melodie ertönt: «Listen to this nice C major chord», kommentiert er und blickt uns auffordernd an. Wir sind plötzlich in einer Lehrstunde. Die These: Musikalische Systeme spiegeln politische Systeme. Unerwartete Analogien fallen: Tonalität sei offensichtlich verknüpft mit dem Feudalismus, 12-Ton Musik mit dem Kommunismus. Ein Hip-Hop-Beat unterstreicht die ungewohnten Klänge. «This music has no hierarchy.», erklärt Noël. Einige im Publikum schmunzeln, andere strengen sich an. Ob das lustig oder ernst gemeint ist, bleibt unklar.
Pause. Dann fragt Noël: Stimmt das wirklich so? Sind Politik und Musik so eng verknüpft? Gegenargumente werden hervorgebracht. Die Begegnung mache die Musik aus. Schliesslich höre man anders zu, wenn ein Stück im Bourgeoisie-Radio gespielt würde, als wenn es in einer Punk-Bar aufgeführt würde. Abrupte Pause. Das Publikum soll nun die Augen schliessen und sich die erste Melodie im Kontext von verschiedenen geschichtlichen Ereignissen vorzustellen: Im Luthertum, beim Prager Fenstersturz, bei der Entdeckung der DNA. Noël erzählt mir nach dem Konzert, das sei einer der unangenehmsten Momente für ihn. «Es ist absurd. Ich kann mir ja darunter auch nichts vorstellen.» Das Stück soll ihm zufolge auf leicht provozierende Weise zum Denken anregen. Dabei geht es auch um grössere Fragen: Wie politisch ist Musik? Wie politisch soll sie sein?
Ariane tritt wieder auf die Bühne, das Duo steht nun nebeneinander vor der Wand. Die Tango-Stücke von Astor Piazzolla lenken das Publikum vom Denken wieder ins Fühlen. Luftig, harmonisch, frühlingshaft frisch spielen die beiden. Auch im Tango sprechen ihre Instrumente miteinander. Noëls Mund formt die Melodie des Stücks nach, Ariane blickt konzentriert auf die Noten. Sie lächeln sich bescheiden an, während das Publikum begeistert klatscht.
von Johanna Brodmann
Es will Winter werden in Zürich. Wenn es draussen dunkelt und drinnen die Teelichte flackern, wird im Raum236 ein Notenheftlein aufgeschlagen.
Ein Abend in Liedern.
Onna Stäheli, Publikum
Hier klicken zum Text von Johanna
Die Frischhaltefolie über der Lebkuchenplatte ist gelüftet. Am heutigen Abend sind die Wände im Raum236 üppig mit Tannenzweigen behangen, Lichterketten schlängeln sich über den Boden und spiegeln sich im glänzenden Laminat. In zwei blechernen Bottichen dampft Glühwein, am Klavier im hinteren Drittel des Raumes improvisiert Pianist Tim Bond traumversunkene Tonfolgen, während junge Familien, alte Freund:innen und neue Bekannte eintrudeln. „Wännd ihr öppis trinke?”, werden sie begrüsst. Vor mir sitzt ein kleiner Junge zwischen seinen Eltern, seine bestiefelten Beine baumeln vom Stuhl, er knabbert friedlich an einer Grissini-Stange. Die Stühle, normalerweise in Paaren um Bistrotische angeordnet, stehen heute im grosszügigen Halbkreis um das Klavier: Es soll gesungen werden, wie jedes Jahr zur Adventszeit.
Halleluja, hallelu-halleluja, halleluja, halleluja!
Wir beginnen mit einem Kanon. Zuerst singen wir das zweizeilige Lied gemeinsam, dann teilt uns Onna Stäheli, Co-Leiterin des Raum236,
in drei Gruppen: Mit einem Arm dirigiert sie weiter, mit dem anderen zieht sie zwei imaginierte Trennlinien in unseren Halbkreis. Gruppe
eins beginnt und singt die erste Zeile allein. Dann setzt meine Gruppe ein, die dritte Gruppe nach uns. Unser Gesang ist jetzt gruppenweise verschoben,
und trotzdem klingen wir als Einheit. Ich blicke umher und lausche. Unter den Singenden sind heute auch einige Chorsänger:innen aus Zürcher Chören, die
unserem Klang ein Gerüst geben. Ich verliere kurz die Melodie, schaue zurück auf mein Notenblatt und bin beim nächsten Halleluja wieder richtig. Wir enden auf C.
Zimetstern han i gern, Mailänderli au’!
Zur Melodie von Jingle Bells singen wir über Weihnachtsgebäck. Unser frisch zusammengesetzter Klangkörper findet seine volle Lautstärke, das Lied ist bekannt,
auch den Kindern. Mir ist es neu. Tirggel und Spitzbuebe, Pfäffernüss mit Puderzuckerschnee werden besungen. Köstlich. „Ihr zwei, euch brauche ich beim nächsten
Lied schön stark in der Mittelstimme”, animiert Onna zwei Herren in der hinteren Reihe. Sie setzen sich aufrecht hin. „Ist gut!”, sagen sie.
Dert wo’s warm isch, dert wo’s häll isch, derte bin ich gärn dehei, derte chan ich besser gspüre, ich bi nid allei!
Als irgendwann das letzte Lied verklingt, bleibe ich noch. Die beiden Herren hinten rechts unterhalten sich bei einem Bier,
am urigen Holztisch malen Kinder weisses Papier an. Ich lerne eine Dame kennen, die bald neu ins Quartier ziehen wird. Per Zufall habe sie
die Lichterketten draussen an der Strasse gesehen und sei neugierig geworden. Als ich ihr erzähle, dass hier jede Woche ein Konzert stattfindet,
sagt sie: „Na, dann komme ich wieder!”. Dann bietet sie mir das Du an. Wir reden eine Weile über ihr Leben in Zürich und über das Chorsingen:
Beide waren wir lange Teil eines Chores, stellen wir fest. „Eigentlich”, so sind wir uns als Soprane einig, „müsste man auch mal in den Alt wechseln.”
Um in der mittleren Stimme unser Gehör für Harmonien zu üben. „Aber die Melodie zu singen, das ist zu schön!”
Ein paar Sänger:innen haben sich in verkleinerter Formation vor dem Klavier zusammengefunden und schlagen das Liederheft nochmals auf. Tim Bond schiebt den Klavierhocker zurecht und wartet auf Onnas Einsatz. Neben dem Klavier hat es sich ein Kind auf dem Laminatboden gemütlich gemacht. Es betrachtet aufmerksam den kleinen Chor vor und die Klavierpedale neben sich. Dann deckt es sich mit einem Sitzkissen zu und lauscht andächtig, als die Musik einsetzt.
von Jonas Rippstein
Beim Konzert vom Duo Reis/Jurt steht ein Lichtkegel zwischen den Musizierenden. Auf dem Tisch: eine Viola, eine portugiesische Gitarre, von der Vertikale in die Horizontale gebracht, Kabel, Pedale, Elektronik. Das Spiel sieht in dieser Anordnung ganz neu aus, es verschiebt sich etwas mit dem Perspektivenwechsel in meinem Blick.
Hugo Reis, Rita Jurt
Hier klicken zum Text von Jonas
Aufmerksam schaue ich den Fingern der beiden zu, wie sie mit Berührung Klänge erzeugen, die sich im Loop zur Unkenntlichkeit verzerren. Klänge entspringen den Verstärkern, die nicht mehr nach ihrem Ursprung tönen. Im warmen Licht des Lichtkegels schliesse ich immer wieder die Augen, lasse mich treiben in den Geräuschen, Bilder kommen hoch, Assoziationen werden geweckt, meine Sinne schreiben ihre eigene Poesie. Wenn die beiden Musizierenden spielen, berühren sie ihre Instrumente, sie lassen aber nicht nur diese erklingen, sondern mit ihnen eine ganze Welt. Es klingt mal nach Meeresrauschen. Mal nach Messerwetzen. Mal nach Meteoritenschweif.
Sinnlich finde ich das Erlebnis an diesem Abend; und damit bin ich nicht allein: Schaue ich nach links und nach rechts, sehe ich, wie die Zuhörenden im sound tauchen, mit allen Sinnen lauschend. Hugo Reis sagt nach dem Konzert, in ihrer Anordnung gebe es kein richtiges oder falsches Spielen; und ich denke mir, genauso ist es auch mit den Sinnen, mit ihnen erleben wir die Welt genauso fernab dieser Kategorien. Vielleicht war gerade deshalb dieses sinnliche Bad in den Klängen so angenehm an diesem unscheinbaren Mittwochabend.
Ein Körper berührt ein Instrument. Es entsteht Resonanz, es entsteht Klang, es entsteht eine Reaktion. Körper können auf Berührung reagieren, genauso wie meiner an diesem Abend.
Kann Musik als ein space begriffen werden, der durch Berührung entsteht, die eine Wechselwirkung in Gang setzt? Im Gespräch mit dem Gitarristen Hugo Reis und der Bratschistin Rita Jurt, die am 27. November 2024 im Raum236 aufgetreten sind, möchte ich mehr über diese besondere Wechselwirkung erfahren und über die Bedeutung von «Berührung» in der Musik zu sprechen kommen.
Jonas Rippstein: Ihr kreiert in «Tateabilidade» eine elektronische Soundebene, die improvisierend durch Berührungen an der Gitarre und Viola entsteht. Was macht diesen melodiösen space so spannend?
Hugo Reis: Unser Programm ist spannend, weil es eine musikalische Begegnung darstellt – wir treten in Dialog, könnte man sagen. Im Hintergrund haben wir eine elektronische Soundebene, die Rita mit der Viola und ich mit der Gitarre betreten. So entsteht ein einzigartiger Austausch, bestehend aus elektronischen Elementen und den akustischen Instrumenten.
Rita Jurt: Dem anfügen würde ich, dass ich die elektronische Soundebene, die Hugo komponiert hat, als sehr poetisch empfinde. In diesen Klängen gibt es aus meiner Sicht eine natürliche Bewegung und eine Poesie, die sonst nicht so einfach zu finden ist. Dies bereichert unser Zusammenspiel zusätzlich und ist sehr inspirierend.
Jonas Rippstein: Was sind die Herausforderungen, denen ihr in dieser Spielanordnung begegnet seid?
Rita Jurt: Für mich ist das Spielen und Interagieren mit dieser elektronischen Ebene im Hintergrund immer wieder herausfordernd. Hugo Reis: Eine weitere Herausforderung ist, dass wir keine Partitur haben. Wir wissen vor dem Konzert nur grob, was für Teile wir mit welchen «Energien» spielen möchten. Wir müssen einander zuhören, um einen musikalischen Diskurs herzustellen. Vorhin haben wir davon gesprochen, dass Rita und ich in einen Dialog treten. Manchmal kann es auch sein, dass man dabei in einen «Anti-Dialog» gerät. Es kann beim Improvisieren passieren, dass man sich nicht versteht. All diese Elemente tragen aber zum Konzept der «Tateabilidade» bei, da gehört das «Missverständnis» unweigerlich mit dazu.
Jonas Rippstein: Welche Art von Musik berührt euch am meisten?
Rita Jurt: Mich berührt ein breites Spektrum an Musik. Am meisten berührt mich jedoch Musik, die live gespielt wird. In unserem Projekt produzieren wir Töne mit Objekten, die wortwörtlich berührt werden können, was ich ebenfalls sehr schön finde.
Hugo Reis: Ich höre ebenfalls eine grosse Bandbreite an Musik, alles von Renaissance-Musik bis Black Metal. Zurzeit konzentriere ich mich vor allem auf zeitgenössische Musik und lege einen Fokus auf elektronische sounds. Ganz besonders berührt mich eine Mischung aus traditioneller und moderner Musik, da mache ich immer wieder spannende Entdeckungen.
Jonas Rippstein: «Tateabilidade», zu Deutsch «Taktilität», ist der Name eures Programms. «Taktilität» bezeichnet die Fähigkeit, berührt zu werden oder die Reaktion auf Stimulation durch körperliche Berührung. Berührung produziert Resonanzen, sowohl physikalische als auch emotionale. Sie sind die Reaktionen auf die Berührung. Warum ist die Auseinandersetzung mit diesen Resonanzen so spannend?
Hugo Reis: «Tateabilidade» ist ein portugiesisches Wort, das nicht häufig verwendet wird. Es bezeichnet, wie du richtig sagst, das Gefühl des Berührens. Was dabei interessant ist: Wenn du damit beginnst, ein Instrument zu lernen, dann ist die Berührung das Erste, was du machen wirst. Du wirst das Instrument zuerst nur berühren. Am Anfang «spielt» man noch nicht richtig, man fasst vielmehr einfach an. Lernst du ein Instrument über längere Zeit, wird es komplexer, du beschäftigst dich mit einer musikalischen Tradition, mit Melodien und Liedern. In diesem Prozess ist es einfach, die «basics» zu vergessen: nämlich die einfache Berührung. Sie steht am Anfang jedes Klangs. Für mich ist es daher spannend, mich mit diesem ersten Schritt auseinanderzusetzen und damit zu experimentieren.
Rita Jurt: Ich habe über 30 Jahre als Violinlehrerin gearbeitet. Violine zu unterrichten ist ziemlich tricky: Wenn das Instrument falsch gehalten wird, ist es schwierig, in Resonanz mit ihm und der Musik zu treten. Dies habe ich zum Beispiel oft gesehen, wenn Kinder am Tag der offenen Tür in der Musikschule Instrumente ausprobieren durften. Gewisse nahmen die Violine sanft in die Hand, andere konnten das weniger gut. Das heisst nicht, dass man das Instrument dann je nachdem nicht erlernen kann, sondern dass der Weg, wie man das Spielen lernen wird, anders sein wird.
Jonas Rippstein: In der Beschreibung eures Programms spielt das aktive Zuhören eine wichtige Rolle. Aktives Zuhören bedeutet genaues, konzentriertes Hinhören. Weshalb ist das aktive Zuhören im Kontext dieser Auseinandersetzung mit Resonanz so wichtig?
Rita Jurt: Aktives Zuhören bedeutet, in eine Beziehung zu den Klängen zu treten. Dies spielt sich im Innern der Zuhörer:innen ab. Es ist ein absichtsloses Hören, das sich in einer Intensivierung der Wahrnehmung niederschlägt. In diesem Moment befinde ich mich im Hier und Jetzt und neige mich unter Umständen Neuem und Unerwartetem zu. Dabei kann ich im Universum der Klänge immer wieder neue Entdeckungen machen. Felix Baumann beschreibt dies in seinem Beitrag, Hören als kulturelle Leistung, in Ganz Ohr? Herausgeber davon ist Benjamin Lang.
Jonas Rippstein:Wie unterscheidet sich die Berührung eurer Wahrnehmung durch die Musik beim Hören von Live-Musik im Gegensatz zum Hören einer Aufnahme?
Hugo Reis: Mich berührt beides auf die jeweilige Art und Weise. Bei Live-Konzerten kann es sein, dass Störgeräusche da sind, die ablenken können. Bei Aufnahmen kann man sich auf gewisse Dynamiken beim Hören besser fokussieren, aber es fehlt das Spontane. Spannend ist, dass es bei Live-Konzerten wichtig ist, wo man sich in einem Raum befindet, weil das Gespielte je nachdem anders klingt. Eine Aufnahme gibt hingegen immer dieselbe Qualität wieder.
Rita Jurt: Bei einem Live-Konzert ist ausserdem das Publikum mit dabei, das die Musik komplementiert. Ich glaube zudem, dass Musiker:innen bei Aufnahmen anders spielen, als wenn sie live auftreten. Ich habe selbst gemerkt, beim Üben für das Programm mit Hugo, dass mit dem Improvisieren noch eine zusätzliche Ebene hinzukommt. Da entstehen kleine «Schönheiten», wie ich sie nenne – kleine, unerwartete Sequenzen. Diese «Schönheiten» können stören, sie können aber auch bereichern. Schliesslich könnte man sagen: Wir hören immer anders, je nachdem, wie Musik gespielt wird.
Das frisch gegründete Duo Exotic Garden, bestehend aus Simon Wyrsch (Klarinette) und Vendim Thaqi (Gitarre), feiert Premiere. Fragmente eines Konzerterlebnisses, wie es so vielleicht nur im Raum236 stattfinden kann.
von Johanna Brodmann
Vendim Thaqi, Simon Wyrsch
Hier klicken zum Text von Johanna
Ein kleiner Hund mit weissem Fell, es könnte ein Malteser sein, liegt unter meinem Stuhl. Herausfordernd blicken mich seine braunen Knopfaugen durch die Stuhlbeine hinweg an. Mit einem Satz springt er auf und jagt durch den Konzertraum. Seine Pfoten klickern über das Laminat. Auf dem blauen Teppich, der heute Abend die ebenerdige Bühne bildet, lässt er sich schliesslich nieder. Und zupft mit seinen Zähnen Teppichfasern aus.
„Bist du schon mal in Brasilien gewesen?“, fragt Simon Wyrsch, die Klarinette auf das Bein gestützt und blickt seinen Duopartner Vendim Thaqi an. „Nein“, erwidert Vendim, über seine Gitarre gebeugt. „Ich schon“, Simon wendet sich wieder zum Publikum, „man sieht es an meinem T-Shirt.“ Er zupft an seinem bunten Oberteil. Der Hund nagt weiterhin am Teppich.
Dann spricht die Musik – und die kommt aus Brasilien. Auf dem Programm steht Celso Machado, ein brasilianischer Komponist, der neben Werken für Gitarre auch Filmmusiken schrieb. Gleich das erste Stück, das Wyrsch und Thaqi jetzt anstimmen, erinnert mich an eine Filmszene. B – A – D, absteigend in der Klarinette. Monica Bellucci lässt sich in Malèna auf einen Bistrostuhl nieder, steckt sich eine Zigarette zwischen die Lippen und blickt todunglückglich ins Leere. Von allen Seiten springen Feuerzeuge umherstehender Männer auf. Ennio Morricones Saxofon klagt dazu F – E – A. Nicht identisch zur Klarinette am heutigen Abend, aber ähnlich genug, um mich daran zu erinnern. Irgendwie wehmütig. Überhaupt passt die Musik heute in einen Film. Sie ist unterhaltsam, angenehm, kann einen schönen Moment unterstreichen. Sie fordert nicht heraus. Und vielleicht muss sie das auch gar nicht.
„Das ist übrigens der Milo“, stellt Simon Wyrsch den Hund nun vor. Milo tappt unter seinem Klappstuhl hindurch und trinkt eifrig aus einem Wasserglas am Boden. „Milo stiehlt uns die Show!“, lacht Vendim.
Das Duo Exotic Garden ist am heutigen Abend zum ersten Mal überhaupt zu hören. Die Gründungsgeschichte des Duos ist kurz: Über LinkedIn haben sich beide Musiker kennengelernt. „So beginnen heutzutage alle Partnerschaften“, sagt Wyrsch. Er kommt aus dem Jazz. Thaqi verrät zwinkernd, dass er „eigentlich ein Rockstar“ sei und ursprünglich, vor dem Klassikstudium in Aachen und Zürich, E-Gitarre gelernt habe. Beide sind mit Konzertvenues ohne Stuhlreihen und Räusperverbot vertraut – und stehen auch hinter der Auflockerung klassischer Konzertformate: „Zu Beethovens Zeiten hat man eigentlich ein Picknick veranstaltet während des Konzerts“, erzählt Vendim, „ich finde, man muss zurückkehren zum echten Leben. Welcher Mensch sitzt gerne für zwei Stunden und bewegt sich nicht?“ Wenn ich es mir so überlege, könnte die freie Fläche neben dem Bühnenteppich heute wirklich zu einem Tanzparkett werden. Samba- und Bossa Nova-Stücke schmiegen sich aneinander. Teelichte flackern auf den runden Tischen, die im Raum verteilt sind. Auf den Notenstapel neben Thaqis Klappstuhl segelt nach jedem Stück sanft ein Notenblatt. Es ist gemütlich. Vielleicht kann ja ein anderes Mal getanzt werden. Heute jedenfalls fegt nur Milo über den Boden, aber auch das ist nett.
Nachdem mit Astor Piazzollas Libertango und Oblivion zwei der bekannteren Stücke verklingen, bleibt mir an diesem Abend nur eine Frage unbeantwortet: Wo nun liegt der exotische Garten und was genau macht einen Garten exotisch? Simon Wyrsch macht es kurz: „Als Band braucht man einfach einen guten Namen heutzutage.“ Welche Koordinaten der Garten also auch haben mag – die ersten Knospen konnten heute Abend spriessen.
Als auch die Zugabe verklingt, öffnet sich die Tür und ein Mann tritt ein. Er hat das Konzert verpasst. „Kommen Sie gerne nächste Woche wieder“, lädt man ihn ein. Er bleibt noch ein wenig, während sich Musiker und Publikum mischen. Milo bellt.
Am 13. November traten die Schwestern Karolina und Erika Öhmann als UmeDuo im Raum 236 auf. Mit Cello und Perkussion spielten sie anspruchsvolle zeitgenössische Stücke, die als Auftragsarbeiten für sie komponiert wurden. Ein Erfahrungsbericht und ein genauer Blick auf ihre Notenständer.
von Rosa Zimmermann
Einblick in Sirventès von Anahita Abbasi
Hier klicken zum Text von Rosa
Es klickt rund um mich herum wie Dolby Surround im Kino. Die Klickgeräusche nähern sich von rechts und links, zwei Frauenstimmen fügen sich in den Rhythmus ein, «SO_____MO________MI», singen sie. Dunkle Stöckelschuhe klackern, während das UmeDuo zu ihren Instrumenten auf die Bühne läuft. Pause. Einatmen. Dann tauschen Karolina und Erika einen langen Blick aus.
Für mich ist diese erste Begegnung mit zeitgenössischer Musik erstmal Überforderung. Oft habe ich mich gerade an einen Klang gewöhnt, da fordert mich schon der nächste heraus. Das hängt auch damit zusammen, dass Erika und Karolina Taschen voller Perkussionsinstrumente mitgenommen haben: Gewittertrommeln, Triangel und viel Anderes, was mir an diesem Abend zum ersten Mal begegnet. Wie das Krabbeln eines Tausendfüsslers klingt das Instrument mit den an Seilen aufgehängten Holzstäben, es ist eine Art musikalischer Traumfänger.
Die Fülle, die mir an Akustik geboten wird, widerspiegelt sich in meinem Notizbuch. Vier Seiten schreibe ich voll. Das soll doch etwas bedeuten. Die Musik fordert mich heraus, auch unangenehme Gefühle zuzulassen: Dissonante Töne, abrupte Pausen und spannungsgeladene Aufbaupassagen erinnern mich an einen alten Horrorfilm. Die Reibung des Cellobogens am Metall des Snares erzeugt ein scharfes, hohes Heulen. Mit geschlossenen Augen sehe ich die Nacht und den Wald in schummrigem Licht vor mir.
Während des Konzertes nehme ich an, dass die Details der Performance Entscheidungen des Duos seien. Karolina klärt mich im Nachhinein auf: Nein, jeder Blick, jede Position sei genauestens vorgegeben. Sie sendet mir die Noten zu. Vieles ist vertraut. Töne, Pausen, Rhythmen und Tempi erscheinen wie gewohnt auf und über den Notenlinien. Auch bekannt sind mir die kleinen italienischen Anmerkungen: Glissando, poco accelerato oder unisono. Dazu kommen aber Zeichen wie mathematische Gleichungen: Dreiecke, Kreise und Wellenlinien ergeben eine ungewohnte Sprache und Ästhetik. Zur Partitur gehören auch Anmerkungen zu Technik und Bühnenaufbau auf Englisch oder Schwedisch. Ich bin eingeschüchtert. Zum Glück finde ich in der Legende Erklärungen. Die Komponistin Anahita Abbasi beschreibt mit jedem Zeichen einen ganz bestimmten Klang, beispielsweise einen Schlag mit der flachen Hand aufs Cello. Dazu schreibt die Komponistin: «It's a loud passive slap.»
In einer kleinen Box am Ende des Notenblatts des ersten Stücks COOPERANDUM lese ich: «Vrid på huvudena samtidigt,
mot varandra. Se avspänt på varandra. Håll så länge det? känns bra.» Es ist die schwedische Anweisung der Komponistin
Paula af Malmborg. Erika und Karolina sollen nach dem letzten Ton die Köpfe zueinander drehen und sich dann so lange
ansehen, wie es sich gut anfühlt.
Stille gemeinsam spüren. Das beeindruckt mich an diesem Abend. Denn mir fällt kein anderer Ort ein, wo das auf
dieselbe Weise geschehen kann. Die ganze Aufmerksamkeit liegt auf den Schwestern, der Blick des Publikums haftet
an der Bühne. Ich lausche dem Klang des Cellos, der sich wellenartig ausbreitet. Der Ton lässt meine Kehle vibrieren,
um dann abzuebben, bis ich das feine Kritzeln meines Stifts auf dem Papier höre. So still ist es.
Der Anfang des Novembers steht im Programm vom Raum236 ganz im Zeichen der Entdeckung breitester Lautsphären: Zuletzt füllte das Trio «SÆITENWIND» mit dem vielseitigen Genre des Tangos den Abend, demnächst erwartet das Publikum mit dem «UmeDuo» eine Reise durch bunte Perkussions- und Celloklänge.
von Jonas Rippstein
Karolina und Erika Öhman
Hier klicken zum Text von Jonas
«Wir sind immer gespannt auf neue Begegnungen und neue Musik. So haben wir in den letzten Jahren fantastische Musik aufführen dürfen», erzählt die schwedische Cellistin Karolina Öhman, «es ist enorm spannend, wie viele verschiedene Stilrichtungen es innerhalb der zeitgenössischen Musik gibt. Diese Vielfalt und diesen Ideenreichtum möchten wir unseren Zuhörern vermitteln». Die Begegnungs- und Experimentierfreude mit Publikum und Musik war bei ihrem ersten von insgesamt zwei Auftritten am vergangenen Mittwoch spür-, erleb- und hörbar und füllte den Abend grosszügig aus:
Das Trio SÆITENWIND, bestehend aus Olivia Steimel (Akkordeon), Jonas Tschanz (Saxophon) und Karolina Öhman (Violoncello) bot am 6. November ein vielseitiges Programm rund um den Tango. Klänge des Tango Nuevo von Astor Piazzolla fanden nebst einer Eigenkomposition ebenso Platz wie Tango-Stücke von Komponisten wie John Cage oder Tom Johnson. Die drei Musiker:innen nahmen die Zuhörenden dabei an der Hand und zeigten ihnen die Vielseitigkeit, die das Genre zu bieten hat; und das in einer instrumentalen Besetzung, die eigentlich tango-untypisch ist. Dem Publikum wurde dabei eine breite Klanglandschaft vorgestellt, durch die die Musiker:innen auf eine kurzweilige Art hindurchführten: Zusammen mit kurzen, unterhaltenden Erläuterungen von Öhman zu den Stücken hatte das Publikum genügend Zeit, in eine Komposition hineinzuhören und -zufühlen, was zu einem angenehmen und fesselnden Konzerterlebnis führte.
Eine neue Begegnung mit der Cellistin wird es bereits kommende Woche geben: Öhman wird beim nächsten Konzert im Raum236, am Abend des 13. Novembers, nochmals zu sehen sein. Dann wird sie gemeinsam mit ihrer Schwester, der Perkussionistin Erika Öhman, mit der sie das «UmeDuo» formt, auftreten. Für ihr Konzert im Raum236 werden sie eine Auswahl an unterschiedlichsten Stücken aus den letzten zehn Jahren spielen – von Komponist:innen aus der ganzen Welt: «Das Publikum schätzt dabei sehr oft, dass etwas auf sie zukommt, was sie nicht erwartet haben. Die Zuhörer sind oftmals neugierig und freuen sich, dass wir sie für etwas Neues begeistern konnten.» Mit diesem Reichtum an musikalischen Stücken aus aller Welt haben sich die zwei schwedischen Musiker:innen das Ziel gesetzt, die kulturelle Vielfalt zu fördern. Angesprochen auf das Zusammenmusizieren und -experimentieren mit ihrer Schwester Erika sagt Öhman: «Das geht super. Da wir uns ja bestens kennen, funktioniert es auf einer kammermusikalischen Ebene sehr einfach und klar. Wir können voneinander jedes Detail sofort verstehen und sehr schnell reagieren.»
Karolina Öhman verrät zum Schluss unseres Gesprächs: «Ich freue mich, dass im Raum236 ein neuer, spannender Ort für Kammermusik entsteht, und dass ich Teil dieser neuen Konzertreihe sein darf.» Nach dem vergangenen, vielseitigen Tango-Konzert kann die Freude wohl nur vom Publikum zurückgegeben werden, und es darf sich weiter gefreut werden: auf «UmeDuo» beim Konzert am nächsten Mittwochabend.
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